Noch toben die letzten Gefechte. Noch lauern Gaddafis Scharfschützen auf den Dächern. Noch
ist der Diktator nicht gefasst. Aber Tripolis ist eine freie Stadt.
Ich, der BILD-Reporter, sehe hier, was vor wenigen Wochen noch undenkbar schien.
FREIHEIT.
Mit der neuen Regierung Libyens bin ich in die Stadt gefahren. In der Wüste südwestlich von Tripolis
habe ich gewartet, bis am klaren blauen Himmel ein Flugzeug auftauchte. Die Antonow landete mitten
auf der Landstraße.
An Bord drei Minister der Übergangsregierung. Sie sollen in der Hauptstadt das neue Land
aufbauen. Im Konvoi rasten wir nach Tripolis, begleitet und bewacht von jungen Männern,
Rebellen, die Flak-Geschütze auf ihren Wagen montiert haben.
Tripolis – wie verändert, wie entfesselt diese Stadt plötzlich ist. Als ich vor vier
Monaten hier war, wagten die meisten Menschen kaum zu flüstern. Nun schreien sie
ihre Freude der Freiheit heraus. „Ich bin glücklich“, sagt mir Mohammed (62), der
Milch verkauft. „Aber ich schäme mich auch. Warum mussten sich erst unsere Söhne
erheben und sterben? Warum hat meine Generation nie diesen Mut aufgebracht?“
Gaddafis Residenz liegt nun in Trümmern. Geplündert der Raum, in dem ich vor vier Monaten
seine Porzellansammlung sah. Aus seinem Versteck verbreitet der Diktator die Radio-
Botschaft, er werde kämpfen „bis zum Sieg oder zum Tod als Märtyrer“.
Im Journalistenhotel „Rixos“ sitzen dreißig Kollegen als Geiseln der letzten Regime-
Anhänger. Gaddafis Getreue wissen, dass die Nato dieses Hotel nicht bombardieren
wird, solange dort westliche Reporter festsitzen. Angeblich gibt es Bunkeranlagen
unter dem Hotel, in denen sich Gaddafis Sohn Saif al-Islam verstecken soll.
Nachmittags
Erleichterung: Die Journalisten dürfen das Hotel verlassen! Es bleibt gefährlich: Am
Abend sollen vier italienische Reporter entführt worden sein.
Ein Gaddafi-Scharfschütze erschoss gestern in Tripolis eine Frau, die gerade Pistazien auf
dem Markt gekauft hatte. Die Familie der Frau erzählte mir, wie die verstreuten Pistazien im
Blut lagen.
Tripolis ist frei von Gaddafi, aber in der Stadt wird noch immer gemordet und gestorben – 400
Tote, 2000 Verletzte werden gemeldet. Gaddafi selbst ist weiter auf der Flucht. 1,17 Millionen Euro
haben die Rebellen inzwischen auf seinen Kopf ausgesetzt.
Die Welt wartet auf den nahen Tag, an dem in Tripolis die Waffen schweigen.
Quelle:  BILD online, 24.8.2011
              www.bild.de/politik/ausland/muammar-gaddafi
BILD-Reporter Julian Reichelt am Stadtrand von Tripolis
Foto: Andreas Thelen